Viele junge Leute zieht es zum Studieren nach Kiel. Doch anstatt das Studentenleben in der Landeshauptstadt zu genießen, verbringen viele Studenten die freien Tage im Auto, im Bus oder in der Bahn, um in die alte Heimat zu fahren. Drei zugezogene Kieler Studenten erzählen von ihrem Pendlerleben zwischen Hörsaal und Heimat – immer unterwegs, im Zug oder irgendwo auf der Autobahn.
Oft nimmt das Wort Heimat erst nach dem ersten Auszug von zu Hause oder nach einem langen Auslandsaufenthalt Gestalt an. Plötzlich lässt sich nachempfinden, warum Stefanie Kloß, Sängerin der Band Silbermond, in einem ihrer Lieder über eine Bundesstraße in Bautzen singt; warum Sido damals 2004 über seinen „Block“ rappte; und mit welchem Gefühl Philipp Poisel wohl die Zeilen verfasst hat: „Und ich vermiss dich, / weil / du Heimat und / Zuhause bist, / weil bei dir mein Bauchweh aufhört“. Heimat ist ein deutliches, aber schwer definierbares Gefühl. Theodor Fontane versuchte es vor vielen Jahren mit den Worten: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“.
An der Christian-Albrechts-Universität laufen am Ende der Woche viele Studenten mit auffällig großen Taschen in die Seminare und Vorlesungen. Es ist nicht zu übersehen, dass einige das bevorstehende Wochenende nicht in der Studentenbude verbringen werden. Am Abend stehen sie dann zerstreut auf Parkplätzen, an Bushaltestellen und an den Straßenrändern, um die richtige Mitfahrgelegenheit zu ergattern. Besonders auf dem Parkplatz hinter der Mensa ist am Donnerstag- und Freitagabend immer Hochbetrieb. Was ist es, das die Kieler Studenten am Wochenende und in den Semesterferien aus der Stadt zieht? Wie groß ist die Verbundenheit mit der alten Heimatstadt? Der CollegeBlog der Kieler Nachrichten stellt drei Porträts vor:
„Mit der Stadt verbindet mich nur mein Studium“
Jana Barenschee, 21, Lehramtsstudentin an der Christian-Albrechts-Universität Kiel
Als die Zusage der CAU vor genau zwei Jahren in meinem Briefkasten lag, war ich überglücklich. Ich kannte Kiel schon vorher, weil hier schon eine Freundin von mir wohnte. Und da ich sowieso ein Meer- und Wassermensch bin, hat mir Kiel von Anfang an total zugesagt. Die Stadt hat für mich die perfekte Größe – nicht zu klein und nicht zu groß. Ich meldete mich sofort auf WG-Portalen und in Ersti-Gruppen auf Facebook an. In der Gruppe für Philosophie bemerkte ich, dass noch ein weiteres Mitglied aus Uelzen kommt – das war echt ein totaler Zufall. Ich habe sie angeschrieben und wir haben uns gleich getroffen, um unseren ersten Stundenplan gemeinsam zu erstellen. Das war wirklich praktisch und hat mir für meinen Start in Kiel viel Halt gegeben.
Heute sind wir gute Freundinnen, wir gehen zusammen in die Seminare und fahren auch oft gemeinsam nach Hause. Bei der Wohnungssuche hatte ich leider nicht ganz so viel Glück: Ich wohne in einer Zweier-WG und meine Mitbewohnerin legt leider nicht sehr viel Wert auf Sauberkeit. Es ist nicht so, dass ich penibel bin, aber ich möchte in meiner Wohnung einfach auf Strümpfen gehen können, ohne dass Essensreste oder anderer Dreck unter meinen Füßen kleben. Nach einiger Zeit bekam ich durch Zufall heraus, dass ich im Verhältnis viel mehr Miete bezahle, als sie und dass ihr Freund – ohne dass ich es wusste – einen Schlüssel für unsere Wohnung hat. Eines Tages hat sie dann ohne Absprache, eine Katze in die Wohnung mitgebracht. Eigentlich ist sie ganz süß, aber für mich gehören zum WG-Leben einfach Absprachen dazu. Ab und zu quatschen wir auch mal, aber im Grunde ist jeder in seinem Zimmer und macht sein Ding. Ein WG-Leben habe ich mir früher immer anders vorgestellt.
Heimat ist für mich da, wo ich mich wohlfühle, da, wo alles eine gewisse Gewohnheit hat und da, wo man so sein kann, wie man ist. Es ist nicht so, dass ich mich in Kiel nicht wohlfühle, aber es fehlen mir oft meine Lieblingsmenschen um mich herum. Mein Freund wohnt ebenfalls noch in Uelzen und so fahre ich oft nach Hause, um ihn und meine Familie zu sehen. Ich habe das Familienleben – nach diesen WG-Erfahrungen – wirklich schätzen gelernt. Ich liebe es abends mit allen am Tisch zu sitzen und gemeinsam zu essen. Dazu kommt, dass sich meine alten Freunde nach dem Abi in ganz Deutschland zerstreut haben und in Uelzen kommen wir dann meistens alle wieder zusammen.
In den ersten beiden Semestern bin ich auch oft für meine Fußballmannschaft nach Hause gekommen – ich konnte sie einfach noch nicht so schnell alleine lassen. Mittlerweile habe ich das aber aus Zeitgründen aufgegeben. Zurzeit verbinde ich mit Kiel wirklich nur mein Studium. Doch wäre ich mit meiner derzeitigen Wohnsituation glücklicher, dann könnte die Stadt auch zu meiner Heimat werden. Mein Freund würde gerne nach Kiel versetzt werden. Wenn das klappt, werden wir uns ein gemeinsames Zuhause suchen.
„Letztens saß der DJ von Olivia Jones auf meinem Beifahrersitz“
Benedikt Küppers, 21, studiert Industriedesign an der Muthesius Kunsthochschule Kiel
Als ich 2013 für das Studium in das 450 Kilometer entfernte Kiel zog, hatte ich von einer Landeshauptstadt irgendwie mehr erwartet. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet ist Kiel wirklich ein Dorf. Schnell lernte ich Kiel jedoch auf eine andere Weise lieben: Die kurzen Wege zur Uni und zum Strand zum Beispiel, die frische Meeresluft und das Surfen. Zuerst wohnte ich in einer WG. Als sich das als absolut grausames Wohnen herausstellte, suchte ich mir eine eigene kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Für mich war das die beste Entscheidung überhaupt, denn bei meinem Studiengang verwandelt sich meine Wohnung gerne auch mal in eine große Werkstatt.
Auch das Uni-Leben an der Muthesius gefiel mir von Anfang an sehr. Wir arbeiten viel praxisnäher als andere Hochschulen. In meinem Semester sind wir beispielsweise nur zehn Studenten und wir erarbeiten viele gemeinsame Projekte. Trotz alledem machte ich mich in den ersten drei Semestern fast jedes Wochenende mit meinem Auto auf den Weg nach Oberhausen. Es war jetzt nicht so, dass ich jedes Wochenende unbedingt aus Kiel weg wollte – ich bin wirklich nur gefahren, um meine daheim lebende Freundin zu sehen.
Wenn ich heute zurückblicke, war diese Zeit schon ziemlich anstrengend, ich verbrachte oft zehn Stunden pro Wochenende auf der Autobahn. Zu der Zeit war das für mich aber nicht schlimm. Ich gewöhnte mich allmählich an die Fahrzeiten. Allerdings hatte ich das Glück, dass ich gleichzeitig den Anschluss zu Kieler Freunden aufbauen und halten konnte. Aufgrund unseres kleinen Semesters kann man sich gar nicht aus den Augen verlieren. Natürlich wurde ich auch mal schräg angeguckt, nach dem Motto: „Was? Du fährst schon wieder nach Hause?“, aber im Großen und Ganzen war die Fahrerei kein großes Hindernis für meine Freundschaften. Nach meinem dritten Semester ging unsere Beziehung dann in die Brüche. Sie ist aber nicht wegen der Distanz zerbrochen, das haben wir beide eigentlich sehr gut hinbekommen. Manchmal war es sogar ein Vorteil für uns: Wir hatten beide unter der Woche wenig Zeit und so konnte jeder sein Ding machen. Auf das Wochenende haben wir uns dafür umso mehr gefreut, und es war auch ein Stück weit intensiver.
Seit der Trennung fahre ich weniger nach Hause. Im letzten Semester habe ich es nur einmal zu meiner Familie geschafft. Und das war auch schon ziemlich knapp und stressig. Mein kleiner Bruder hatte genau in der Zeit seinen Abiball, als ich meine Endpräsentation vorbereiten musste. Ich kam also Zuhause an, ging an den Schreibtisch, fuhr zum Abiball, blieb nicht lange und arbeitete weiter. Ich hatte zwar meine Familie um mich herum, aber Zeit hatte ich leider keine. So etwas ist echt schade, weil ich eigentlich gerne zu meiner Familie fahre.
Auf dem Weg nehme ich immer etappenweise Mitfahrer mit. Manchmal nervt mich der Small-Talk, weil die Mitfahrer oft dieselben Fragen stellen und ich mir spätestens nach dem vierten Mitfahrerwechsel wünschte, ich hätte ein Tonband aufgenommen. Manchmal habe ich aber auch echt interessante Menschen im Auto sitzen. Auf der letzten Fahrt saß der DJ von Olivia Jones auf meinem Beifahrersitz und hat mir von seiner Szene und seiner Musik erzählt. Crazy Typ. Jetzt bin ich im fünften Semester und ich kann wirklich sagen, dass ich in Kiel mein Zuhause gefunden habe. Es ist sogar so, dass ich das Meer und die Möwen vermisse, wenn ich im Ruhrgebiet bin. Das Gefühl angekommen zu sein, ist ein wirklich gutes Gefühl.
„Heimat ist für mich immer da, wo ich gerade schlafe“
Lukas Jureczko, 22, Lehramtsstudent an der Christian-Albrechts-Universität Kiel
Heimat ist für mich kein genauer Ort. Ich bin in Gifhorn geboren, in Celle aufgewachsen und als ich damals in die achte Klasse kam, zogen wir nach Wilhelmshaven. Mit 17 bin ich Zuhause ausgezogen und war von da an auf mich alleine gestellt. Zur selben Zeit stieg ich als Bassist in einer Wilhelmshavener Band ein. Das war echt eine wilde Zeit: Wir spielten klassischen Punk und nahmen sogar ein Album mit zwölf Liedern auf. Nach dem Abitur 2012 bewarb ich mich an mehreren Universitäten um ein Lehramtsstudium. Dass ich Deutschlehrer werden wollte, wusste ich schon mit 14 Jahren und ich wollte mir diesen Berufswunsch – neben meinem Musikerleben – unbedingt erfüllen.
Die Studienortentscheidung überließ ich dem Bewerbungsverfahren. Am liebsten wäre ich nach Oldenburg gegangen, aber die Uni wollte mich nicht. Nach einigen Wartesemestern bin ich in Kiel gelandet. Als ich vor zwei Jahren hierher kam, war ich ziemlich verloren. Ich kannte hier keine Menschenseele. Ich habe einfach alle möglichen Ersti-Programme mitgemacht, um ein paar Leute kennenzulernen. Am Anfang schmiedete ich den Plan, nur so lange in Kiel zu studieren, bis ich nach Oldenburg wechseln kann – um endlich meiner Band wieder näher sein zu können.
Wie man sieht, hat sich dieser Plan nicht erfüllt: Ich komme jetzt in das fünfte Semester und ich mag Kiel und mein Studium inzwischen sehr gerne. Ich arbeite sogar seit einigen Monaten als Vertretungslehrer in einer Schule. Der Job ist für mich wirklich ein Glücksfall. Für mein Hobby pendel ich regelmäßig zwei- bis dreimal im Monat nach Wilhelmshaven. Da von meiner Familie keiner mehr dort wohnt, schlafe ich meistens bei unserem Gitarristen auf der Couch.
Zuhause fühle ich mich eigentlich überall. Heimat ist für mich irgendwo zwischen Uni und Band – immer da, wo ich gerade schlafe. Mit der Band nehmen wir gerade neue Songs für unsere zweite EP auf. In Wilhelmshaven haben wir uns schon einen richtigen Namen gemacht. Wir haben Auftritte in ganz Ostfriesland, Bremen, Hamburg, Hannover und auch schon in Kiel. Musikalisch sind wir – Gott sei Dank – von dem stumpfen Punkrock weggekommen. Wir spielen nun eine Mischung aus vielen verschiedenen Stilrichtungen, wie Reggae, Pop und Blues.
„Harte Zeit“ nach Kiel zu holen, käme für mich nicht in Frage, weil wir hier wieder von null anfangen müssten. Wir haben in Wilhelmshaven einen großartigen Proberaum und eine starke Fanbase. Das Pendeln geht also weiter – und ist auch voll in Ordnung für mich. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas dadurch verpasse.