Im Rahmen von opencampus.sh fahren Kieler Studierendengruppen regelmäßig aufs Land, um dort zusammen mit Absolventen und Künstlern aus ganz Deutschland an den praxisnahen Design-Projekten der Grünen Werkstatt Wendland zu arbeiten – unsere Autorin hat die Kreativwerkstatt besucht.
Ein gelbes, schief stehendes, leicht ausgeblichenes Schild am Straßenrand einer Hauptstraße weist die Autofahrer auf einen kleinen einspurigen Weg. Es ist ein milder Herbsttag und auf einem der umliegenden Felder fährt ein Bauer gerade seine letzte Kartoffelernte des Jahres ein. Nach nur wenigen Minuten ist der Werkhof in dem kleinen Dorf „Kukate“ erreicht. In der Hofeinfahrt steht ein älterer Herr in einem grünen Overall. „Moin“, murmelt er in seinen weißen Bart. Er kam gerade aus dem Hühnerstall – und verschwindet kurz, um sich etwas Sauberes anzuziehen. Eine legere Hose. Einen orangen Pullover. Denn Michael Seelig ist kein Landwirt im klassischen Sinne. Er ist einer der kreativen Köpfe der Region. Gemeinsam mit seiner Frau hat er vor über 40 Jahren die fast 200 Jahre alte Hofstelle erworben und nach und nach die Bauernscheunen zu Werkstätten für Handwerkskünste umfunktioniert. „Damals war das schmiedeeiserne Tor, der einzige Gegenstand, der einigermaßen intakt war“, erinnert sich Michael Seelig lächelnd. Vom Tor aus fällt der Blick direkt auf das restaurierte Fachwerkhaus im alten Vierständerbau. Ein Landidyll mitten im Wendland, zwischen dem UNESCO-Biosphärenreservat ‚Niedersächsische Elbtalaue‘ und dem Atommülllager Gorleben. Doch in dieses abgelegene Idyll kommen regelmäßig Künstler und Designer sowie Studierende aus Kiel und Berlin, um in Seeligs Werkstätten zu arbeiten.
Nicht nur Dornröschenschlaf
Bei einem Glas Bio-Apfelsaft an einem Holztisch unter einer alten Kastanie erklärt er das Konzept der Grünen Werkstatt Wendland. „Die Idee kam uns vor etwa sechs Jahren gemeinsam mit befreundeten Unternehmern und Kreativen aus der Kreisverwaltung. Wir haben im Wendland keine Hochschule und keine Autobahn, dafür aber Internet, viel Natur, leer stehende Gebäude und Freiräume für innovative Ideen.“ Aufgrund der geographischen Lage zwischen Elbe und Drawehn blieb diese Region viele Jahrhunderte nur dünn besiedelt und so konnte sich hier eine einzigartige Natur erhalten. Rund 50 Prozent der Landflächen des Landkreises Lüchow-Dannenberg stehen heute unter einem Schutzstatus. Nach der deutschen Teilung ragte die Region wie eine Nasenspitze in die DDR und galt somit lange als das vergessene Land im Zonenrandgebiet. Es entwickelte sich eine Kultur, die in den 1980ern oft als störend, aufständisch und chaotisch bezeichnet wurde. Bis heute protestieren die Anwohner gegen das in ihrer Nähe liegende Atommülllager. Obwohl das Wendland seit der Wiedervereinigung in der norddeutschen Mitte liegt, gehört es noch immer zu den am wenigsten besiedelten Gebieten Deutschlands. Aber Michael Seelig entschloss sich, es aus dem Dornröschenschlaf aufzuwecken. Fünf Jahre lang – von 1985 bis 1990 organisiere er zusammen mit seiner Frau einen Pfingstmarkt auf dem Hof, woraus sich die heute bundesweit bekannte „Kulturelle Landpartie – Wunderpunkte im Wendland“ entwickelte, die jedes Jahr hunderttausende Besucher anlockt und viele Kreative in die Region zieht.
„Es war an der Zeit, unsere Stärken mehr zu betonen und jungen Künstlern zu zeigen, wie gut es sich hier arbeiten lässt“, erklärt Michael Seelig. Dabei fällt sein Blick auf zwei gackernde Hühner, die sich dem Holztisch nähern. „Viele Firmen aus unterschiedlichen Branchen aus unserer Region, darunter bekannte Namen wie Nya Nordiska, SKF, Steinicke, Voelkel und Werkhaus schlossen sich zusammen und entwickelten ihre individuellen und regionalbedingten Frage- und Problemstellungen.“ Mit viel Glück und einigen privaten Kontakten konnte das Team Kunst- und Designhochschulen auf sich aufmerksam machen, woraufhin ein Konzept für studentische Designcamps entwickelt werden konnte. Im Jahre 2012 erhielt die Grüne Werkstatt Wendland eine Förderung durch das EU-Projekt „crea.re“. Mit dem Geld startete auch das erste Camp unter dem Motto ‚101 Ideen für das Wendland. Eine kreative Woche im Grünen‘. Dazu kamen fast 20 Design-Studierende der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle und der HAWK Hildesheim für einige Zeit zum Wohnen und Arbeiten auf den Hof der Seeligs. „Am Ende konnten sich die entstandenen Lösungs- und Produktvorschläge wirklich sehen lassen – die beteiligten Unternehmen waren sehr überrascht. Es bestätigt sich immer wieder: die ruhige Landluft verleiht der Kreativität neue Flügel“, schwärmt Michael Seelig.
Für die Firma Werkhaus wurde unter anderem ein besonderes Vogelnisthaus entworfen, in das ein Smartphone gesteckt werden kann, um Vögel zu beobachten. Das Vogelnisthaus lässt sich, ohne zu kleben oder zu schrauben, ausschließlich mit Gummiringen – nach dem klassischen Werkhaus Stecksystem – zusammenbauen und besteht aus grau- und cremefarbenden Holzfaserplatten. Außerdem entstand das Brettspiel „SuperGaudi“, das sich spielerisch mit der Atommüllproblematik beschäftigt. Beide Produkte werden heute von Werkhaus vermarktet.
Besondere Beziehung zu Kiel
Die Ruhe auf dem Hof stören hin und wieder Kastanien, die von den Bäumen auf den Boden fallen. Gut geschützt unter dem Sonnensegel, erklärt Seelig, wie die besondere Beziehung zu Kiel entstand. Als die Förderung nach einem Jahr auslief, bewarb sich die Grüne Werkstatt auf eine Ausschreibung des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft. Von rund 80 Bewerbern wurden elf Bildungscluster nach Berlin eingeladen, darunter die Grüne Werkstatt Wendland und opencampus.sh aus Kiel. Voraussetzung für die Förderungen war, dass eine Verwaltung, eine Hochschule und die freie Wirtschaft miteinander kooperieren. Auf beide Projekte traf das perfekt zu.
Bei der Grünen Werkstatt kümmert sich die Verwaltung Lüchow-Dannenberg um die Projektabwicklung. Sie stellt die Anträge und regelt die Finanzen. Die Grüne Werkstatt an sich ist der Organisator und der Umsetzer und entwickelte im Laufe der Zeit Kooperationen mit neun verschiedenen deutschen Design- und Kunsthochschulen. Das Bildungscluster opencampus.sh verbindet die Christian-Albrechts-Universität, die Muthesius Kunsthochschule und die Fachhochschule Kiel. Studierende und Interessierte können gemeinsame Seminare besuchen und mit regionalen Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft in Verbindung treten. Genau wie bei den Wendländern geht es ihnen um die Vernetzung von Praxis und Theorie. Auch den Seminarteilnehmern aus Kiel werden auf diesem Wege wertvolle Unternehmenskontakte und Jobperspektiven ermöglicht. „Schon bei der Projektpräsentation haben wir gesehen, dass die Kieler Truppe richtig gut ist“, erinnert sich Seelig. Vier von den elf beworbenen Regionalprojekten wurden mit 250.000 Euro gefördert – zwei von ihnen waren Kiel und das Wendland. „Das war der Beginn unserer engen Kooperationspartnerschaft. Unsere Konzepte passten auf Anhieb so gut zusammen, sodass wir unbedingt zusammen arbeiten mussten“, erklärt Seelig.Seit 2013 können Kieler Studierende und Interessierte im Rahmen von opencampus.sh zu unterschiedlichen Designcamps ins Wendland fahren. Die „Design-Camps“ richten sich an Studierende ab dem zweiten Semester und gehen über zwei Wochen. Die „Starter-Camps“ sind für Absolventen gedacht und umfassen acht Tage. Seit zwei Jahren gibt es außerdem das Kooperationsprojekt Stadt Land Meer. „Die Idee entstand während eines Starter-Camps auf unserem Hof“, so Michael Seelig. „Ein junges Startup konnte sich nicht entscheiden, ob sie lieber in Berlin, im Wendland oder in Kiel arbeiten und wohnen sollten.“ Hierbei geht es darum, Studierenden Möglichkeiten des Lebens und Arbeitens aufzuzeigen. Von Kiel und Berlin aus, werden studentische Gruppen organisiert, die je nach Bedarf im Trubel der Großstadt Berlin, inmitten grüner wendländischer Naturidylle und bei frischer Seeluft in Kiel arbeiten dürfen. In diesem Zusammenhang erwähnt Michael Seelig immer wieder Eliza Rottengatter und Alexander Ohrt, zwei wichtige Organisatoren und Ansprechpartner von opencampus.sh. Mit Stadt Land Meer können Startups, Studierende und Interessierte ihr gewohntes Arbeitsumfeld mal verlassen und die Inspiration alternativer Räume für sich nutzen und entdecken. Und auch mit dem Design Thinking-Kurs, den Alexander Ohrt zusammen mit Daniela Marzavan von der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin organisiert, machen Kieler und Berliner Studenten seit 2015 im Wendland Station. „Eliza Rottengatter sagt immer, dass sich das Wendland perfekt dazu eignet, die Kursteilnehmer einander näher zu bringen, sie können sich hier einfach ohne Ablenkung auf ihre aktuelle Fragestellung fokussieren“, so Michael Seelig.
Neben den Workshops beinhalten die Wendlandcamps auch Unternehmensbesuche und Führungen durch das Biosphärenreservat, damit die Studierenden deren Produkte, Fragestellungen und Probleme besser kennenlernen. „Pfiffige Studierende finden sofort heraus, wo für sie möglicherweise Anschlüsse drinstecken“, erklärt Seelig. Der Student, der die Idee für den smartphonetauglichen Nistkasten hatte, ist heute bei der Firma Werkhaus beschäftigt.Aber dem Team der Grünen Werkstatt Wendland geht es auch darum, ländliche Regionen für die Zukunft zu wappnen und Herausforderungen wie Landflucht vorzubeugen. Für Michael Seelig liegt in der scheinbaren Rückständigkeit das wahre Pfund seiner Region: „Die jungen Menschen müssen einmal erleben, wie es hier nachts wirklich dunkel wird, und wie man am Lagerfeuer wunderbar die Sterne sehen kann. Dass das Bier, das hier gebraut wird, auch ganz gut schmeckt, und dass hier wirklich nette Leute sind, die einem die Türen öffnen, und man eigentlich sofort Kontakt in alle Bereiche des Lebens vermittelt bekommt“, sagt Michael Seelig abschließend, und leert mit einem großen Schluck das Apfelsaft-Glas.
Wer hätte das alles hinter einem schmiedeeisernen Tor auf einem Bauernhof im Wendland erwartet? Hier befindet sich nicht nur ein historisches norddeutsches Hofidyll, sondern gleichzeitig ein innovatives Kreativlabor für junge Designer aus ganz Deutschland.
Näheres findet Ihr hier:
Weitere Infos gibt es auf den Homepages gruene-werkstatt-wendland.de und www.opencampus.sh. Wer sich über das Programm von opencampus.sh informieren möchte, kann auch zum offenen Gründerfrühstück (immer mittwochs um 9.30 Uhr in die Kuhnkestraße 6, Wissenschaftspark Kiel) kommen.