Nach den Terroranschlägen in Frankreich stuften manche Experten ähnliche Attentate für die Bundesrepublik Deutschland als so gut wie unmöglich ein. Kurz vor Weihnachten kam es dann aber zu einem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin. Seitdem stehen Flüchtlinge im Fokus einer Sicherheitsdebatte. Was wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen können.
Im Rahmen meiner Bachelorarbeit beschäftigte ich mit dem Thema „Flucht und Vertreibung“ nach 1945 in Deutschland. Aus den ehemals ostdeutschen Gebieten, zum Beispiel Schlesien, Preußen und Pommern, wurden in den Nachkriegsjahren geschätzte 12 Millionen Menschen vertrieben. Viele unserer eigenen Verwandten, denn Historiker sprechen beinahe von einem Viertel der damaligen Gesamtbevölkerung. Und obwohl damals überwiegend christliche Vertriebene und Flüchtlinge mit unterschiedlich deutschen Dialekten kamen, entstanden Konflikte und kontroverse Ansichten. Auf beiden Seiten: Natürlich hatten auch die „Neuen“ Hoffnungen und Bestrebungen, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Immerhin können wir diese Empathie nachvollziehen, wenn der „Hobbit“ über die Bildschirme läuft. Ein salopper Vergleich von heimatssehnsüchtigen Zwergen und dem Berg „Erebor“ kann deutlicher sein, als wir manchmal glauben wollen.
„Merkels Tote“
Nach dem Attentat ging die Lawine los. Zunächst wurde nur auf Grundlage von Fakten ermittelt. Am vergangenen Donnerstag titelte die BILD-Zeitung: „Abschiebeversagen“. Der ein oder andere AfD-Politiker griff sofort zur Tastatur und wies Kanzlerin Merkel die Schuld zu: „Merkels Tote“. Die „Identitäre Bewegung“ blockierte jene Parteizentrale, die maßgeblich an einer Grenzöffnung beteiligt gewesen wäre. Wieder keine genauen Fakten, wieder Stigmatisierungen.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche beschrieb um 1900 dieses Phänomen als eine chronologische Umkehrung von Ursache und Wirkung. Dabei existiert die Ursache nur imaginär, nachdem die Wirkung bereits erfolgt ist. Kurzum: Annahmen und Mutmaßungen als Erklärungen von tatsächlich noch nicht ermittelten Ursachen von Folgen. Benutzer fremdenfeindlicher Ressentiments schnüren in solchen Tagen die Angst und den Hass zu ihren Gunsten. Trauer wäre wohl eher angebracht. Sprachpublizisten sammelten und krönten das Wort „Postfaktisch“ als Wort des Jahres. Und das im Land der Dichter und Denker!
Die Inhalte sind austauschbar
Wenn es nach 1945 noch Binnenmigration war, die zum großen Teil nicht mit Wohlwollen akzeptiert wurde, sind wir in den letzten Jahren nicht in der gleichen, aber in einer ähnlichen Situation angelangt. Die Inhalte sind austauschbar: Eine soziale Gruppe X möchte in das Territorium Y. Der Schriftsteller Christoph Martin Wieland reihte sich mit seiner „Geschichte der Abderiten“ in diese aufklärerische Tradition ein: „Denn am Ende lief es doch immer darauf hinaus, daß der abderitische Philosoph, etliche lange nichtsbedeutende Wörter abgerechnet, gerade so viel von der Sache wußte, als derjenige unter allen Abderiten, der – am wenigsten davon zu wissen glaubte.“ Hieraus entstehen neue Denkansätze, die längst aus alten Zeiten bekannt sind: Die Wahrheit zu besitzen.
Scheuen wir uns heutzutage vor dem demokratischen Konflikt? In einem weiteren Roman warnt er vor dem Missbrauch von Religion als Machtinstrument und stellt gleichzeitig heraus, dass ebenso Fanatiker von Religionsgedanken irrationale „Schwärmer“ seien. Wohl bemerkt: Gedanken des 18. Jahrhunderts. In Analogie können wir die Auferstehung von Paradigmen wie „die christliche Leitkultur“ beobachten. In einem Land, wo wir mit ca. 30 % konfessionslosen und 3-5 % muslimischen Bürgerinnen und Bürgern in Frieden leben, erscheint dies als ein umgekehrter Schutzmechanismus.
Ein Ausblick
Die „Frohe Botschaft“ der Weihnachtszeit sollte einst Frieden auf der Welt stiften, nicht zu Feindseligkeit und Ignoranz führen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Flucht und Vertreibung“ sollte eins, so hoffen die Pädagogen und Lehrkräfte, klargestellt haben: Nie wieder Krieg, nie wieder Ausschluss anderer durch ideengeschichtliche Differenzen. Beherzigen wir die Worte des Autors Hermann Hesse: „Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.“
Die Anschläge in Berlin werden einen großen Einfluss auf die Landtagswahlen und die Bundestagswahl haben. Sie werden das Denken über Sicherheitsfragen neu regieren: Terror als nicht die Tat des Einzelnen, sondern als netzwerkorientiertes Verbrechen. Über diese unabhängige Variable denken wohl einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurzeit nach.
Das Jahr 2016 hat die Demokratie gelehrt, neue Ideen und Konzepte in die Agenda aufzunehmen. Es hat allerdings darauf hingewiesen, dass durchaus Wählerinnen und Wähler gegen das System selbst sind. Es ist Zeit, die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu minimalisieren. Eine sichere Arche ist eben nur gut konstruiert, wenn alle auf ihr Platz haben.