Unser derzeitiges Wirtschaftssystem steckt in der Krise. Lebensmittel und Klamotten werden zu Dumpingpreisen angeboten, es gibt ungebremste Monopolbildungen und der Klimawandel schreitet immer weiter voran. Doch ist eine nachhaltigere, gemeinwohlorientiertere Wirtschaft überhaupt möglich? Drei Jahre haben sich Wissenschaftler aus Flensburg und Kiel mit dieser Frage beschäftigt.
Das Forschungsprojekt „Gemeinwohlökonomie im Vergleich unternehmerischer Nachhaltigkeitsstrategien“ wurde – wie der KN-CollegeBlog bereits am 11. Juli 2017 berichtete – am Norbert Elias Center der Europa-Universität Flensburg unter der Leitung von Professor Dr. Harald Welzer und Dr. Bernd Sommer durchgeführt und stand in Kooperation mit der Uni Kiel – genauer gesagt mit dem Lehrstuhl für Praktische Philosophie und dem Kiel Center for Philosophy, Politics and Economics geleitet von Professor Dr. Ludger Heidbrink. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und wird Ende Februar 2018 abgeschlossen. In der letzten Woche, am Montag, den 19. Februar, fand die Abschlusstagung unter dem Titel „Zwischen Gewinnmaximierung und Gemeinwohl: Unternehmen in der sozial-ökologischen Transformation“ in Berlin statt. Das Forschungsteam präsentierte ihre Ergebnisse und stellte sich den Fragen der Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Neben den Wissenschaftlern waren auch rund hundert Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Vereinen aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz vertreten.
Die beiden Kieler Professor Dr. Ludger Heidbrink und Ralf Köhne haben sich mit dem Teilprojekt „Geschichte des gemeinwohlorientierten Wirtschaftens“ beschäftigt. Im Gespräch erklärt Ralf Köhne die Komplexität des Wirtschaftssystems und deckt die Schwierigkeiten des Gemeinwohlbegriffs auf. Er ist Volkswirt und Philosoph und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Uni Kiel.
Herr Köhne, warum befindet sich unser Wirtschaftssystem in der Krise? Warum ist es so wichtig, sich mit alternativen Wirtschaftsmodellen auseinander zu setzen?
Unsere heutige Krise ist sehr komplex und spielt sich auf mehreren Ebenen ab. Schon sehr früh gab es die ersten Bedenken hierzu. Spätestens in den 1970er Jahren – nach dem Bericht des „Club of Rome“ – war klar, dass das immer kontinuierlich wachsende System auf Dauer nicht funktionieren kann. Zwar hat sich in den Folgejahren viel getan – so wurde beispielsweise der Umwelt- und Naturschutz in die Politik getragen –, aber leider wurde auch viel verschlafen. So haben wir es noch heute mit einem System zu tun, dass autistisch vor sich hin funktioniert. Es nimmt wenig Rücksicht darauf, welche Bedingungen erfüllt oder gegeben sein müssen, um selbst gut und eigenständig funktionieren zu können. Die letzten dreißig, vierzig Jahre haben uns zu spüren gegeben, dass ausschließliche Profit- und Gewinnmaximierung zu viele schädliche Nebenfolgen produzieren.
Wir brauchen also ein Wirtschaftssystem, das besser in die Gesellschaft eingebettet ist, um so den Entwicklungen der Globalisierung standzuhalten.
Ganz genau. Aus dieser kritischen Reflexion heraus ist die Disziplin der Wirtschaftsethik entstanden. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich von der Universität St. Gallen liefert hierzu beispielsweise die klare Ansage, dass Wirtschaft immer für den Menschen da sein soll. In unserem heutigen System kommt der Mensch eher wenig vor. Die Wirtschaft hat keinen festen Platz in der Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Sie drängt andere gesellschaftliche Bereiche zurück. Wenn man bis zu Aristoteles zurückgeht, kann man sehen, dass dieser Platz früher selbstverständlich war. Die hierarchische Ordnung hieß: Erst Ethik, dann Politik und erst dann Wirtschaft. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Wirtschaft ist für viele das dominierende gesellschaftliche Subsystem. Das heißt, wenn die Wirtschaft einen Schnupfen hat, bekommt das gesamte gesellschaftliche und politische System eine Grippe.
Besonders Christian Felbers Idee der Gemeinwohl-Ökonomie wurde auf der Abschlusstagung hitzig diskutiert. Ist dieses Modell realistisch? Ein Tagungsteilnehmer vertrat die These, dass das Modell gelebte Soziale Marktwirtschaft sei. Was sagen Sie dazu?
Die Gemeinwohl-Ökonomie ist eine sehr junge Bewegung aus Österreich. Innerhalb des Forschungsprojektes konnten wir uns sehr intensiv mit diesem Entwurf auseinandersetzen. Die Parallele zur Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, dass sich beide bessere politische Rahmengesetzgebungen wünschen. Ansonsten muss man mit diesem Vergleich aber aufpassen. Zu der Sozialen Marktwirtschaft gehört der freie Wettbewerb. Die Gemeinwohl-Ökonomie hat die Idee, das gesamte System von Wettbewerb auf Solidarität umzupolen. Das klingt auf den ersten Blick sehr schön, aber in der Realität ist Wettbewerb eine ganz wichtige Institution. Erst wenn Firmen im Wettbewerb stehen, können Monopole begrenzt werden. Das Kartellrecht sorgt in Deutschland dafür, dass keine Preisabsprachen zwischen den Unternehmen vorgenommen werden. Die Gemeinwohl-Ökonomie plädiert jedoch zum Teil für genau diese Absprachen. Zwar haben sie eine faire Behandlung der Stakeholder im Sinn – was auch sehr löblich klingt – aber man kann hier schnell auf eine sozialistische Schiene rutschen. Wie die Vergangenheit zeigt, bewirken diese Maßnahmen genau das Gegenteil von Fairness und Freiheit. Diese Bewegung hat viele gute Ideen im Sinn, nur leider ist ihre Umsetzung höchst problematisch. Das Konzept ist noch in zu viele Widersprüche verstrickt.
Was bedeutet Gemeinwohl eigentlich?
Der Begriff ist schon uralt. Er ist schon bei Aristoteles zu finden. Hier ist das politisch Gute das Gerechte, das wiederum zum Allgemeinwohl führt. Später im Mittelalter bei Thomas von Aquin ist das im Diesseits erfahrbare Gemeinwohl eine Art Vorstufe zum höchsten Gut, das durch ewige Anschauung Gottes im Jenseits erreicht werden kann. Damals haben also Ordnungsprinzipien wie Kosmos oder Gott die Gemeinwohlziele definiert. Heute leben wir aber in einer pluralistischen Gesellschaft. Es kommen Fragen auf wie: Was ist die Gemeinschaft? Welche Gemeinschaft ist gemeint? Und vor allem, wer gehört zur Gemeinschaft? Wenn man über Kirche oder Theologie spricht, dann ist die Gemeinschaft immer die Gemeinschaft der Gläubigen. Unter modernen Bedingungen und in der Politik können und wollen wir aber nicht mehr davon sprechen. Damit würden wir unsere Freiheitsrechte, unseren Minderheitenschutz und die Menschenrechte in Gefahr bringen. Man ist sich in der Wissenschaft deswegen einig, dass der Begriff a priori, das heißt vor aller Erfahrung, nicht mehr bestimmbar ist. Wäre der Begriff also im Vorhinein mit Inhalt gefüllt, so hätte es etwas wahnsinnig Rückschrittliches und möglicherweise gar Totalitäres. Ganz zu schweigen davon, dass der Begriff auch von den Nazis übel missbraucht wurde. Der Begriff ist heute also nur noch a posteriori, also aus der Erfahrung heraus, anwendbar.
Das klingt sehr komplex.
Ja, aber es ist wichtig, das zu beachten. Der Kieler Soziologe Ferdinand Tönnies unterscheidet beispielsweise schon am Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Eine Gemeinschaft ist selbstverständlich, hier wird man hineingeboren und es gelten die gleichen Werte. Eine Familie ist beispielsweise eine Gemeinschaft. Gesellschaften hingegen müssen begründet werden. Hierfür werden imaginäre oder fiktive Verträge benötigt. In einer Gesellschaft existieren nicht selbstverständlich die gleichen Werte – oder wie Aristoteles sagt Tugenden. Hier ist alles unterschiedlich – und um trotzdem ein Zusammenleben zu ermöglichen, wird eine gemeinsame Grundlage benötigt. In der Politischen Philosophie nennt man das beispielsweise die Vertragstheorie. Es findet eine Rationalisierung und Rechtfertigung statt, die viele Menschen auf eine bestimmte Basis bringt. Die Freiheiten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger stehen hierbei immer im Vordergrund und müssen berücksichtigt werden.
Das bedeutet, man bräuchte eigentlich einen anderen Begriff?
Ganz genau. Zwar steht der Gemeinwohlbegriff in unserer Verfassung und Gesetzgebung – aber er wird als unbestimmter Rechtsbegriff benutzt. Das bedeutet, er wird immer auf die einzelnen Fälle hin geprüft. Es wird ein vielfältiges Potpurri an Werten – von Frieden, über Gerechtigkeit, Wohlstand, Rechtssicherheit, bis hin zu Nachhaltigkeit und Menschenwürde – untersucht, um dann im Sinne des Gemeinwohls Recht zu sprechen. Dies geschieht immer a posteriori und im Einzelfall. Es gibt also auch in unserem Gesetz keine feste, apriorische Definition, die bestimmt, was Gemeinwohl ist. Und das ist auch gut so, schließlich haben wir das Privileg in einer modernen Gesellschaft zu leben. Wir versuchen uns irgendwie zum Besten zusammenzutun und uns das Beste zu ermöglichen. Hierfür brauchen wir zwar den Gemeinwohlbegriff, auch wenn dieser – wie Karsten Fischer sagt – eher den Eindruck erweckt, als sei er ein Pudding an der Wand, der sich nicht festnageln lässt. Trotz alledem wird in einer politischen Gemeinschaft beziehungsweise in einem Staat ein sozialer Leim benötigt, der alles zusammenhält. Herfried Münkler und Karsten Fischer reden hier nicht vom Gemeinwohl, sondern vielmehr von einem Gemeinsinn. Die Hauptfragen lauten also: Wie wollen wir zusammenleben? Wie können bei möglichst maximalen Freiheitsrechten für den Einzelnen eben doch noch gemeinsame Ziele erreicht werden? Die Wirtschaft ist in Verruf geraten, weil sie sich von diesen Fragen verabschiedet hat.
Können Sie der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung etwas raten?
Sie könnten sich umbenennen. (lacht) Nein, sie können sich natürlich weiter so nennen. Aber sie sollten über diesen Begriff nachdenken. Ich finde es sehr gut, dass es diese Bewegung gibt. Sie hat mit vielen Diagnosen und Analysen recht. Aber sie muss aufpassen, nicht als ad-hoc-Theorie abgestempelt zu werden. Es fehlt ihr nämlich leider noch an der nötigen theoretischen Untermauerung.
In einem Vortrag haben Sie angedeutet, dass die Gemeinwohl-Ökonomie viele Parallelen zu den Ideen des alten Schotten Francis Hutcheson aufweist. Damals haben sich Adam Smith und David Hume entgegengesetzt. Sind Sie eher Smith oder Hume?
(lacht) Das weiß ich nicht. Francis Hutcheson war der Lehrer von Adam Smith und war der Meinung, es gäbe ein objektives moralisches Erkenntnisvermögen – einen sogenannten „moral sense“. Damals gab es also noch keinen Mind-Behaviour-Gap – von dem wir heute viel sprechen. Smith und Hume war das schon damals viel zu objektiv. Ich kann mich aber nicht zwischen Hume und Smith entscheiden. Wahrscheinlich wäre ich eher Smith. (lacht)
Kann wirtschaftliche Gemeinwohlorientierung also wirklich nur auf Grundlage ökonomischen Erfolgs funktionieren?
Ja, das glaube ich. Unternehmen müssen sich letztlich immer selbst erhalten. Wenn sie sich nicht an der schwarzen Null orientieren, sind sie ganz schnell weg vom Fenster. Dann hat niemand mehr was davon, dass sie versucht haben, sich am Gemeinwohl zu orientieren. Mit kurzfristigen Profitinteressen erlangt man aber auch keine Selbsterhaltung. Langfristig gesehen sägen sie hiermit an dem Ast, auf dem sie selber sitzen. Unternehmen sind hier in einer Zwickmühle und wünschen sich im Grunde vielfache Lösungen und zum Teil auch politische Orientierung.
Wie wird die Welt in 20 Jahren aussehen? Was meinen Sie, wird sich etwas ändern?
In unserem Forschungsprojekt haben wir zwei Szenarien entwickelt. Im ersten Szenario sind wir davon ausgegangen, dass beispielsweise alle internationalen Klimavereinbarungen scheitern werden. Dass das dramatische Folgen hätte, kann sich jeder denken. Das zweite Szenario war so aufgebaut, dass es wenigstens in Europa gelingt, gleiche Wettbewerbs- und Regulierungsbedingungen für alle zu schaffen. Das ist allerdings in der politischen Realität ziemlich schwer umzusetzen. Interessant ist aber, dass sich die Unternehmen so oder so als Anpasser verhalten würden.
Was bedeutet das konkret? Schaffen wir die Kurve noch oder wird die Welt untergehen? (ironisch klingend)
(schüttelt den Kopf) Nein, ich glaube nicht, dass die Welt untergeht. Ich befürchte aber, dass noch einige unschöne Sachen passieren werden. Einige Wissenschaftler gehen schon jetzt davon aus, dass das 2-Grad-Ziel von Paris nicht mehr erreicht werden kann und forschen an sämtlichen anderen Maßnahmen und Technologien. Auch viele Kieler Forscher bohren hier an echt dicken Brettern.
Ihr Forschungsprojekt geht jetzt zu Ende. Woran müsste man noch weiter forschen?
Man könnte versuchen, den Forschungsgegenstand zu erweitern und andere Ansätze anschauen. Dadurch dass die Wirtschaft in den letzten Jahren auf der neoliberalen Schiene immer extremer geworden ist, gibt es auch zunehmend mehr Ansätze, die versuchen, umzusteuern. Der Entwurf der Gemeinwohl-Ökonomie gibt hierfür leider noch zu wenig her. Ich weiß, das klingt sehr desillusionierend. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich jemals so liberal argumentieren werde. Das System ist einfach zu komplex, als dass es sich mit einfachen Mitteln verändern lässt.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Foto: Nicolai Herzog