Foto: Uwe Paesler

Was ich noch sagen sollte: Hinunter vom Elfenbeinturm!

Es ist doch wirklich unterhaltsam. Das Smartphone vibriert, das Facebook-Logo erscheint, ein Algorithmus öffnet die App und siehe da: Eine Weltkugel fungiert als Zeichen für eine neue Nachricht in einer Gruppe. Genug Diskussionsbedarf, um über das „Wesentliche“ nachzudenken. Und weiter: wie verhält es sich mit einer neuen Konfliktlinie zwischen (welt-)offener und (welt-)geschlossener Gesellschaft? Wagen wir einen Blick in das Gleichzeitige der Ungleichzeitigkeit. Die Universität muss ihren Elfenbeinturm verlassen, sodass eine Beobachtung des ganzheitlichen Systems erst möglich werden kann. Ein letzter Essay.

Aber was ist denn zurzeit das „Wesentliche“? Und besonders was war das „Wesentliche“ und was wird es am Morgen danach noch sein? Dynamischer könnte doch ein Begriff nicht sein. Und doch. Greifen wir nach der etymologischen Wurzel,  stoßen wir auf Bedeutungen, wie zum Beispiel „häuslich“, „dauerhaft“ und „Zustand“. Wird mit dem Skalpell hantiert, bleibt nur noch die Substanz „Wesen“ übrig, also etwas wie eine Eigenart, eine Identität oder Persönlichkeit.

Überraschenderweise kursierten in den letzten Wochen zwei Videosequenzen aus den Debatten des Deutschen Bundestags in den digitalen Weiten der Filterblase. Und ja: manche Probleme erwecken den Anschein, als sei das Wesentliche hier schon gar nicht zu finden. Die Debatte um den Eintrag der deutschen Sprache in das Grundgesetz, beantragt von der AfD, provoziert gerade die Beschäftigung mit jenem „Wesen“. Populär wurde der plattdeutsche Beitrag des Abgeordneten Saathoffs (SPD), der in einem paradoxen Stil die Provokationen der nun designierten stärksten Oppositionspartei nivelliert und damit auskontert: „Düütschland word neet armer dör anner Spraken, Düütschland word rieker.“ Diese Paradoxie konstituiert sich durch zwei Elemente: einer regionalen Identitätsverstärkung bei gleichzeitiger Betonung eines weltbürgerlichen Paradigmas. Dieses Wesen „Düütschland“ offenbart seine Stärke eben gerade durch eine multiple Struktur unterschiedlicher Sprachen. Seine Rede regt zu tiefen Gedankengängen an. Wie entsteht dieses Spannungsverhältnis zwischen einer regionalen und globalen Identität oder zwischen einer geschlossenen und offenen Wahrnehmung?

Von traditionellen zu postmateriellen Konfliktlinien

In einem Artikel der Wochenzeitung DIE ZEIT (09/2018) problematisiert der Soziologe Andreas Reckwitz einen gesellschaftlichen Umbruch. Sein einfaches Modell beschreibt eine tektonische Verschiebung der gesellschaftlichen Klassen und vereinfacht die individuelle Komplexität zu einem anschaulichen Muster. Dass damit viele Denker ein Problem einer Lösung verbinden, steht außer Frage. Und doch: eine neue, durch eine wachsende Population postmaterialistischer Akademiker entstandene  Mittelklasse erzeuge eine gespiegelte neue „Unterklasse“, die aus dem alten industriellen Mittelstand stamme. Somit verhalte sich die alte Mittelklasse in einer kulturellen Defensive zwischen diesen beiden Denkfiguren. In diesem Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Platten betrachtet Reckwitz das Problem der sozialdemokratischen Parteifamilie, die augenscheinlich Wählerverluste europaweit einbüßen musste. Die metaphorische und damit nicht faktische Links-Rechts-Achse, die insbesondere im Kampf der Identitäten als rhetorisches Mittel instrumentalisiert wird, werde dadurch obsolet. Seinem Vorschlag einer neuen Konfliktlinie von Globalismus vs. Kommunitarismus muss allerdings ein geeigneteres Konzept gegenübergestellt werden. Der Politikwissenschaftler Tobias Adler-Bartels (Uni Kiel) konstatiert in komplexitätsreduzierender Form eine neue Konfliktlinie von offen vs. geschlossen bzw. integration vs. dermaracation. Ganz nach der klassischen Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan (1967!). Diese mentale Linie betont das Spannungsverhältnis und politische Konfliktpotenzial zwischen einer liberalen, weltoffenen und global ausgerichteten Gesellschaftsordnung und einem abgrenzenden, protektionistischen und national abgesteckten Muster. So kann sich doch hier die Erklärungskraft für die vielen Wahlspektakel quer durch Europa, in den USA und in den Regierungen vereinzelter Staaten zeigen.

Ein funkelnagelneuer normativer Ansatz? Mitnichten. In Deutschland lässt sich ein rechtes Denken in einer langen Tradition von Armin Mohler über Karlheinz Weißmann bis Götz Kubitschek verfolgen und sprachlich schwierig von einer „konservativen“ Einstellung trennen. Adler-Bartels favorisiert dabei eine Trennung von moderaten und radikalen Konservativen. In einer Gegenaufklärung zu „den 68er“ hätten sich neue rechte Intellektuelle erst etabliert. Aktuell lässt sich eine offenkundige Popularitätssteigerung aufzeigen. Der Antaios-Verlag vom Rittergut der rechten Patchwork-Familie Kubitschek-Kositza scheint jedenfalls nicht von der Insolvenz bedroht zu sein. Rechtes Denken konstituiert sich durch sprachliche Zeichen und Politik funktioniert durch Sprache. Was mir viele Fragezeichen schenkt, ist eine Politisierung dieser geschlossenen Gesellschaftsausrichtung durch die Wahlerfolge der AfD hierzulande, besonders in den neuen Bundesländern. Teilweise äußert sich dieser Ton in latenten Beziehungen zu diesen Denkströmungen der konservativen Revolution, die eine systematische Neugestaltung, notfalls durchaus mit Gewaltpotenzial, vorsieht.

Die politische Sprache hat eine neue dynamische Entwicklungsstufe erreicht und die Parteien versuchen, die vereinzelten Begriffe zu besetzen. Eines dieser Begriffsfelder wird zum Beispiel  durch Horst Seehofers neues Ministerium institutionalisiert: Heimatministerium. Das ist spannend, da dieser Begriff doch ein oppositionelles Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden spannt, zwischen dem eigenen Wesen und dem fremden Wesen und dem eigenen Wesentlichen und dem fremden Wesentlichen. Letztendlich eine Abgrenzung, eine Gegenerklärung zu dem Zeichen der Facebook-Weltkugel. Eine anmutende Paradoxie: Das Netz, das wir gespannt haben, verliert sein Fundament. Das Ringen um eine „Leitkultur“ verdeutlicht diese Problematik, der sich nicht zuletzt Peer Steinbrück mit seiner neuen Publikation angeschlossen hat. Ein reiner Grundgesetzpatriotismus, wie schon bei Habermas, vermag scheinbar nicht ein geistiges Band zwischen der neuen Konfliktlinie zu spannen: ein ungeschriebenes Blatt als Sehnsucht vieler Bürgerinnen und Bürger.

Wie mit solchen Zeiten umgehen? Wie als Studierendenschaft verhalten?

Durch eine Dämmung der Angst? Einer Schlichtung der Identitätskämpfe zwischen regionalen und globalen Denkfabriken? Antworten sind bisher nur mäßig herauszukristallisieren. Eher verzeichnen die von der AfD denunzierten „Altparteien“ Verluste. Und ja. Die „Angstmacher“ bedienen sich der Angst durch die Defizite im Bereich der Maslow’schen Bedürfnisse. Kürzlich stellte eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin fest, dass diese Wahlerfolge einer geschlossen denkenden Protestpartei durch mangelnde Sicherheitsbedürfnisse zu erklären sei: Die Ungewissheit, beispielsweise in der Zukunft über ein gesichertes Einkommen zu verfügen. Es lässt sich daraus herleiten, dass eine Förderung strukturschwächerer Regionen ein ökonomisches Konzept darbieten könnte. Die Frage stellt sich nur, ob ein solches in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger ankommt oder gar existiert. Was in einen stärkeren Fokus rückt, sind Abgrenzungen und Diffamierungen gegenüber einer demokratisch gewählten Partei. Und das ist weiterhin gut so. Rechtsextremismus oder Parteien mit Beziehungen zu Organisationen aus dem rechten Milieu haben nichts in einem Parlament verloren.

An dieser Schnittstelle spielt meines Erachtens die Wissenschaft und die Institution Universität mit ihren Beteiligten eine entscheidende Rolle. Nicht nur den öffentlichen Diskurs zu regieren oder Themen zu besetzen, sondern das Ringen um neue Konzepte für ein demokratisches Miteinander in globalisierten Zeiten anzutreiben. In der Verzahnung mit politischen Kräften, demokratisches Engagement zu steigern. Schwenken wir das Licht nach Halle an der Saale, lässt sich ein solches studentisches Engagement beobachten. Leider erstarken hier die rechten Intellektuellen und nutzen das hinterlassene Vakuum. Das „Wesentliche“ ist ein dynamisches Konstrukt, es entwickelt sich im Spiegel der Zeit weiter und seine Bedeutung verändert sich für jeden anders. Keinem darf das Recht abgesprochen werden, dem Wesentlichen eine relevante Bedeutung zuzuschreiben und auf diese Freiheit können wir stolz sein. Doch das Wesentliche anderer Gruppierungen sollte nicht diffamiert und als schildbürgerisch abgestuft werden, nur weil wir uns nicht vor das geistige Auge halten können, warum andere Menschen diesem Begriff etwas anderes zuschreiben möchten.

Ebenso in normativer Hinsicht könnte den rechten Intellektuellen der Spielplatz um die Begriffe verengt werden. Eine neue normative Debatte, was eine weltoffene Wertegemeinschaft ausmacht. Und das unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Platten, ohne das Band zerreißen zu lassen und sich gegenseitig Aberkennung zuzuspielen. Hingegen kann mit Sorge festgestellt werden, dass die Quantifizierung der Sozial- und Geisteswissenschaften mit empirisch ausgerichteten Studien und Publikationen von einem Diskurs entfernen. Korreliert Demokratie mit Globalisierung? Methodische Statistik ersetzt keine theoretische Basis für ein gesellschaftliches Fundament, auf dem eine liberal ausgerichtete Gesellschaftsordnung oder auch eine neue Kultur entstehen kann. Hausarbeitenüberproduktionen ohne Sinn und Verstand regieren die Semesterferien, Debatten über Anwesenheitspflicht kursieren und ja, der Organisationsaufwand in einem Studium (inkl. der Gang zum Prüfungsamt) überwiegt die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Problemen und Themen bei den Studierenden. Von der Sinnlosigkeit der Referatsstafetten muss gar nicht erst gesprochen werden. An diesem ungeschriebenen Blatt sollten alle mitschreiben, die oft vergessen werden oder gar nicht mehr in repräsentativen Wahlen auftauchen. Stolz auf etwas wie die Menschenwürde, Presse- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, ehrenamtliche Strukturen und die Gleichberechtigung zu sein, kann ein legitimierter Magnet für eine solche Ordnung sein, die sich nach der Säkularisierung neu konstituiert. Laut Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) kann dazu auch die deutsche Nationalmannschaft und die schwäbische Heimat gehören, wie er in einer bekannten zweiten Videosequenz der AfD-Fraktion entgegenhielt. Und damit spanne ich den Bogen zum ersten Zitat: regionale Identität widerspricht nicht einer globalen Identität. Es ist ein Recht, man selbst zu bleiben, keine binäre Entscheidung. So es ist natürlich möglich, eine komplexe und vielschichtige Identität zu führen.

Die Dialoge sollten wieder von Herzen gesucht werden. Die Beteiligten müssen ihren Elfenbeinturm des Wesentlichen verlassen, sodass das Wesentliche der „Anderen“ überhaupt erst wahrgenommen werden kann. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, das Diktum Böckenfördes beschreibt, wie nur von innen heraus und durch Partizipation aller Gesellschafter eine Demokratie funktionieren kann.

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