„Aus meiner Sicht war das für das Fach Deutsch katastrophal“

Im Sommersemester 2017 traf für viele Studierende – u.a. aus dem Fachbereich Deutsch – eine langerwartete Nachricht ein: die Aufhebung der Anwesenheitspflicht. Mit der Aufhebung der Anwesenheitspflicht gab es keine Verpflichtung mehr zu ‚langweiligen‘ oder spät stattgefundenen Veranstaltungen, die Nebenjobs mussten nicht mehr dem Unistundenplan angepasst werden und man durfte selbst entscheiden, wie und wann man lernt. Das klingt ja eigentlich nach einem weiteren Schritt in die Autonomie der Studierenden – und doch wurde sie von vielen Dozierenden nach nur einem Semester abgelehnt. Für viele Studierende bleibt dies unverständlich. In einem kurzen Interview erklärt Herr Prof. Dr. Markus Hundt, Professor für Deutsche Sprachwissenschaft, weshalb eine Anwesenheitspflicht trotz der Meinungsverschiedenheiten unabdingbar ist.

Im Sommersemester 2017 wurde die Anwesenheitspflicht u.a. für das Germanistische Seminar aufgehoben. Wie hat sich diese Änderung in den Seminarräumen/Hörsälen kenntlich gemacht?

Was die Seminare betrifft, hat es sich verheerend ausgewirkt, weil das eingetreten ist, was wir im Vorfeld schon befürchtet haben. Die Anwesenheit ist so deutlich zurückgegangen – teilweise mehr als die Hälfte – dass kein kontinuierlicher Seminarbetrieb faktisch mehr möglich war. Das war eben auch für die Studierenden ein Problem, weil diejenigen, die Sitzungen vorbereitet haben, nie wussten, wer denn in den nächsten Sitzungen da ist oder worauf sie aufbauen können. Ein kontinuierlicher Lernfortschritt von Sitzung zu Sitzung war so nicht zu gewährleisten. Aus meiner Sicht war das für das Fach Deutsch katastrophal. Das betrifft aber nicht die Vorlesungen. Die Vorlesungen – das ist ja etwas ganz anderes – waren früher schon nicht mit Anwesenheitspflicht belegt. Aber die Seminare leben davon, dass man sich in Diskussionen gemeinsam Dinge erarbeitet, die man sich eben nicht vollständig zu Hause, im stillen Kämmerlein, selber anlesen kann.

Inwieweit litt das Klima in den Seminaren darunter? Macht es einen qualitativen Unterschied, wenn nur diejenigen da sind, die sich auch freiwillig am Seminargeschehen beteiligen?

Klar ist es für die Dozierenden teilweise einfacher und angenehmer, nur mit denjenigen zu arbeiten, die vorbereitet sind und die in dem Sinne freiwillig kommen. Das war im letzten Semester auch so, dass die, die gekommen sind, wunderbar vorbereitet waren. Man konnte dann gut arbeiten, aber eben nicht kontinuierlich aufbauend von Sitzung zu Sitzung, weil sich die Zusammensetzung dieser Gruppe noch sehr stark verändert hat. Ich sehe es auch so, dass die Aufgabe von uns als Dozierende ist, nicht nur die Hochmotivierten mitzunehmen, sondern alle Studierenden, auch die, die sich – aus welchen Gründen auch immer – manchmal nicht trauen, an Diskussionen zu beteiligen. Wenn diese Studierenden da sein müssen und vielleicht auch nur still dabeisitzen, nehmen sie auch etwas mit. Sie nehmen auf jeden Fall mehr mit, als wenn sie zu Hause sitzen und sich es nur lesend aneignen wollen oder eben gar nichts tun. Das beste Beispiel ist ja unsere letzte Sitzung im Begriffsgeschichte-Seminar. Das wäre in der Stillarbeit oder zu Hause gar nicht machbar gewesen. Was wir da mit den einzelnen Begriffen rausgekriegt haben, haben wir im Referat und in der Diskussion gemeinsam erarbeitet. Und davon haben auch die profitiert, die, wenn es keine Anwesenheitspflicht gegeben hätte, nicht gekommen wären.

Hat die Aufhebung der Anwesenheitspflicht zu schlechteren Leistungen der Studierenden geführt? Sind im Vergleich zum letzten Semester beispielsweise mehr Studierende durch Klausuren gefallen? Wurden viel schlechtere Hausarbeiten abgegeben?

Es wurden bei mir weniger Hausarbeiten abgegeben, aber ich kann nicht zu 100% sagen, dass es auf die Aufhebung der Anwesenheitspflicht zurückzuführen ist. Was ich von den anderen Mitarbeitern gehört habe, ist, dass der Klausurenschnitt deutlich schlechter geworden ist. Aber soweit ich es mitbekommen habe, wird dies noch ausgewertet. Ich habe jetzt nur Eindrücke von den Mitarbeitern, dass die Aufhebung der Anwesenheitspflicht spürbar gewesen sein soll. Zahlreiche Studien haben aber bereits belegt, dass Anwesenheitspflicht und Studienerfolg korrelieren (vgl. z.B. die Metastudie von Rolf Schulmeister, https://www.zeit.de/2015/48/anwesenheitspflicht-universitaetschlechtere-leistung). Die Aufhebung der Anwesenheitspflicht führt ganz klar zu schlechteren Studienleistungen.

Viele Studierende beschweren sich über ‚monotone‘ Seminare, in denen hauptsächlich Referate gehalten werden, über die man im Nachhinein diskutiert. Inwieweit ist es für Dozierende obligatorisch, ihre Seminare inhaltlich und methodisch abwechslungsreich zu gestalten, um so das Interesse der Studierenden zu wecken?

Obligatorisch ist so ein Wort. Obligatorisch ist es insofern erstmal gar nicht, weil wir eine Freiheit von Lehre (und Forschung) haben. Jeder kann diejenigen methodischdidaktischen Vorgehensweisen wählen, die er für richtig hält. Es gibt ja keine Stelle, die vorschreibt, dass man beispielsweise mindestens drei verschiedene didaktische Methoden verwenden muss. Aber es ist ja für alle ein inneres Anliegen, Seminare zu machen, die nicht nur zum Zeitvertreib da sind, sondern die Seminare so zu gestalten, dass alle etwas davon haben. Natürlich gehe ich davon aus, dass die Dozierenden auch intrinsisch motiviert sind, abwechslungsreiche Seminare zu machen und auch mal in didaktischer Hinsicht zu variieren. Es ist aber natürlich auch so, dass die Dozierenden – je länger sie in Geschäft sind – mehr auf das vertrauen, was sich für sie bewährt hat.

Eine Kommilitonin schlägt vor, nicht über die Abschaffung der Anwesenheitspflicht zu diskutieren, sondern eher das Prüfungsverfahren für das Germanistische Seminar zu überdenken: „Das Problem an unserem Studiengang oder generell in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist, dass wir größtenteils Hausarbeiten schreiben, deren Themen wir uns selbst aussuchen dürfen und die nicht unbedingt auf die Diskussionen des Seminars fußen müssen. Dadurch, dass man am Ende des Semesters ohnehin eine Hausarbeit abgibt und die mündliche Beteiligung oder Referate nicht in die Note miteinfließen, fehlt vielen Studierenden der Reiz am Seminar bzw. an die Seminardiskussionen. Viele lesen die Texte nicht, beteiligen sich nicht an die Gespräche oder sind geistig komplett abwesend. Es klingt jetzt zwar sehr nach Schule – aber vielleicht sollte man auch die mündlichen Beiträge und Referate zu ca. 20% würdigen. Diese gehören schließlich auch zum wissenschaftlichen Arbeiten dazu.“

Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Das kann ich voll und ganz unterschreiben. Das Problem rührt von der Bologna-Reform her. Vor der Bologna-Reform war es so, dass wir berechtigt waren, die mündlichen Leistungen, die Beteiligungen und Referate auch mit in die Note des Leistungsnachweises („Schein“) einfließen zu lassen. Dann hat vielleicht jemand eine Hausarbeit geschrieben, die mit der Note 2 bewertet wurde; wenn er oder sie sich aber dann im Seminar sehr gut eingebracht und z.B. ein wunderbares Referat gehalten hat, konnte dies in die Note auf dem Leistungsnachweis („Schein“) einfließen. Das geht heute nicht mehr in gleicher Weise, weil wir nur noch Modulabschlussklausuren- und Hausarbeiten haben. Das heißt, dass die Hausarbeit nicht nur eine Abschlussleistung für das Seminar, sondern für das ganze Modul ist. Das Modul besteht in der Regel aus mehreren Veranstaltungen. Und das hat dann dazu geführt, dass man die Einzelleistungen in den Seminaren nicht mehr bewerten darf. Das habe ich schon immer kritisiert. Die Motivation für die Studierenden – besonders zur Beteiligung an Diskussionen – wird dadurch nicht gerade erhöht. 

Die (Aufhebung der) Anwesenheitspflicht ist ein Thema, das viele Gemüter zum Spalten bringt, da es hierbei noch keine klare ‚goldene Mitte’ gibt. Auf der einen Seite nennt Herr Prof. Dr. Hundt wesentliche Fakten (schlechtere Noten, kein kontinuierlicher Lernfortschritt, unfaires Verhalten den Kommilitonen gegenüber), die gegen sie spricht. Auf der anderen Seite klagen Studierende an, dass man mit der Aufhebung der Anwesenheitspflicht in ihre Autonomie eingreift. Vielleicht sollte man sich als Studierende/r aus den angebotenen Veranstaltungen hauptsächlich diejenigen aussuchen, für die man sich wirklich interessiert – und nicht nur die, die am besten in den Stundenplan passen. Vielleicht erscheint der Besuch der Veranstaltung dann weniger als ‚Zwang‘. Anderseits könnte es für viele Studierende ermutigend sein, wenn (mehr) Dozierende zu Beginn des Semesters nahelegen, dass man mit ihnen über – auch mehr als zwei – Fehlzeiten offen sprechen kann und nicht direkt aus der Veranstaltung ausgeschlossen wird. So müssten Studierende keine ‚Angst‘ mehr davor haben, nach der dritten Fehlzeit und ohne eines ärztlichen Attests die Veranstaltung wiederholen zu müssen.

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