Fast alle Universitäten bieten ihren Studierenden die Möglichkeit an, ein Semester im Ausland zu absolvieren – so auch die Fachhochschule Kiel. Im Rahmen eines einjährigen Studienprogramms können Studierende der Fachrichtung Internationales Vertriebs- und Einkaufsingenieurswesen einen Doppelabschluss in Shanghai erlangen. Einer der diesjährigen Teilnehmer ist mein Verlobter Scheer Muradi. Während er in einem Interview seinen Bewerbungsprozess und seine ersten Eindrücke über das Leben in China schildert, beschreibe ich, wie wir mit der Fernbeziehung und vor allem der Zeitdifferenz von sechs Stunden umgehen.
Wie bist du auf das Studienprogramm aufmerksam geworden?
Im ersten Semester berichtete unser Professor, Herr Tobias Specker, Leiter des Studiengangs Internationales Vertriebs- und Einkaufsingenieurswesen (IVE) am Fachbereich Maschinenwesen, über die Möglichkeit eines Auslandsjahrs an der Tongji-Universität in Shanghai. Vor 2004 gab es für Studierende unserer Fachrichtung keine Möglichkeit, einen Teil des Studiums im Ausland zu absolvieren. Herr Specker hörte im Jahr 2004 von der Gründung der Chinesisch-Deutschen Hochschule für Angewandte Wissenschaften an der Tongji-Universität (CDHAW) und forcierte daraufhin die Mitgliedschaft der Fachhochschule Kiel an diesem Programm. Er lebte selbst von 2008-2010 als deutscher Vizedirektor der CDHAW in Shanghai und war immer bestrebt, möglichst viele IVE-Studierende für das Programm zu begeistern. Seit der Gründung der CDHAW haben im Bereich Wirtschaftsingenieurswesen 220 deutsche Studierende einen Doppelabschluss in China gemacht – davon sind 84 ehemalige Angehörige unserer FH Kiel. Das Studienprogramm klang für mich nicht nur aufgrund des Doppelabschlusses – des Bachelor of Engineering in Kiel und des Bachelor of Logistics in Shanghai – interessant; auch das Kennenlernen eines fremden Landes und einer fremden Kultur fand ich sehr spannend. Der Gedanke jedoch, ein ganzes Jahr von meiner vertrauten Umgebung fern zu bleiben und komplett alleine zu sein, bereitete mir ein wenig Sorgen. Als ich gehört habe, dass drei weitere Kommilitonen sich für das Programm interessieren, war ich sehr erleichtert. Ich erzählte meiner Familie und meinen Freunden von meinem Vorhaben, las mir viele Erfahrungsberichte ehemaliger Studierende der FH Kiel durch und nahm zudem im Rahmen der letzten Interdisziplinären Woche (IDW) an einem Chinesischkurs für Anfänger teil.
Welche Voraussetzungen muss man für das Studienprogramm erfüllen?
Die einzige Voraussetzung für die Teilnahme am Studienprogramm ist das Bestehen aller Klausuren bis zum vierten Semester. Das hieß für uns alle: büffeln, büffeln, büffeln! Im Laufe des dritten Semesters musste ich mich dann schon für das Studienprogramm mit einem Motivationsschreiben auf Englisch und meiner Leistungsübersicht bewerben – sowohl bei Herrn Specker als auch bei der Tongji Universität in Shanghai. Zudem empfahl uns die FH Kiel, uns beim China Scholarship Council (CSC) um ein Stipendium zu bewerben. Diejenigen, die das Stipendium erhalten, bekommen die Miete während des Auslandsjahr erstattet und zudem monatlich 300 Euro. Hierfür war es notwendig, dass wir ca. zwei bis drei Empfehlungsschreiben von verschiedenen Personen (Professoren, Arbeitsgebern etc.) einreichen. Da ich neben dem Studium als Mathe- und Physiknachhilfelehrer in einem Jugendheim gearbeitet habe, als Deutschlehrer in der Bildungseinrichtung inab tätig war und in meiner Freizeit auch ehrenamtlich für geflüchtete Afghanen gedolmetscht habe, fand ich, dass ich auch ‚nur‘ mit einem Zweierdurchschnitt durchaus für eine Förderung geeignet war. Die Enttäuschung erhielt ich wenige Tage vor der Reise: Mein soziales Engagement und die Tatsache, dass ich neben dem Studium noch zwei Jobs hatte, brachten mir leider nicht viel, weil vor dem Komma keine Eins stand… Ich war einige Tage betrübt, weil ich mir Sorgen über die Finanzierung im Ausland gemacht habe. Ich hatte zwar schon meinen Bafög-Antrag eingereicht, die erste Auszahlung werde ich jedoch voraussichtlich erst im Dezember erhalten – so lange muss ich mit meinen Ersparnissen und der Unterstützung meiner Familie zurechtkommen. Weiterhin war notwendig, dass wir uns ärztlich untersuchen lassen, eine Auslandskrankenversicherung abschließen und ein Visum beantragen – also gaaaaaanz viel Papierkram! Was uns alle etwas verunsichert hat, war die Tatsache, dass wir uns vor Ort um ein Zimmer im Studentenwohnheim kümmern sollten. Wir konnten uns weder online, noch telefonisch um ein Zimmer bewerben. Wir konnten also nur hoffen, dass etwas frei sein wird. Ein Gespräch mit Herrn Specker erleichterte uns jedoch. Er teilte uns mit, dass es bislang noch nie dazu gekommen ist, dass jemand aus dem Ausland kein Zimmer erhalten hat.
Wie ist dein erster Eindruck von Shanghai?
Tschüss Kiel, ni hao Shanghai! Die Reise war alles andere als einfach. Nach einem sechsstündigen Flug nach Dubai, einem achtstündigen Flug nach Shanghai und einer zweistündigen Taxifahrt waren wir endlich im Hotel und konnten einchecken. Wir haben es nur noch geschafft, eine Kleinigkeit zu essen und uns bei unseren Familien zu melden. Am Morgen danach sind wir zur Tongji-Universität gefahren und haben uns vor Ort um ein Zimmer im Studentenwohnheim gekümmert. Da wir zehn Tage vor Unibeginn da waren, konnten wir uns sogar unsere Mitbewohner aussuchen – eine große Entlastung! Wir haben uns die ersten Tage die Universität und unsere nähere Umgebung angeschaut. Die Tongji-Universität hat einen sehr großen Campus mit sehr vielen Sportplätzen. Auf den Sportplätzen haben wir die ersten Bekanntschaften mit den Einheimischen geknüpft: Wir wurden von anderen Studierenden sehr herzlich zum Fußball- und Basketballspielen eingeladen. Die Sportplätze sind nach 22 Uhr sehr voll. Uns ist aufgefallen, dass nicht alle aus China kommenden Studierende gutes Englisch sprechen – und trotz der Sprachbarrieren treiben wir jeden Abend gemeinsam Sport. Während die Kommunikation an der Universität für uns keine großen Probleme darstellt, ist die Verständigung außerhalb der Universität etwas schwierig. Viele Taxifahrer, Verkäufer in Supermärkten und Kellner sprechen kein Wort Englisch. Der Google-Übersetzer ist uns hierbei eine große Stütze. Außerdem hat jeder von uns einen chinesischen Study-Buddy, der uns bei Fragen organisatorischer Art hilft. Vor der Reise habe ich mir lange Zeit Gedanken über das ‚gewöhnungsbedürftige‘ Essen in China gemacht. Was ich dazu nur sagen kann: In China kann man essenstechnisch zwar fast alles ausprobieren – muss es aber nicht. Wir haben in unserer Umgebung mehrere Restaurants und Supermärkte entdeckt, in denen man auch europäisches Essen bekommt.
Ich freue mich auf meine weiteren elf Monate in China und bin sehr erleichtert, dass ich mit drei Kommilitonen – nein, eher drei Freunden – geflogen bin. So hat man definitiv weniger Heimweh und einen Gesprächspartner, wenn die anderen Freunde aufgrund der sechsstündigen Zeitdifferenz noch schlafen.
Und dann kam plötzlich der Abschied
Plötzlich – weil ich finde, dass man sich auf eine solche Situation nicht richtig vorbereiten kann. Ich wusste zwar schon Ende Juni, dass Scheer Mitte August für ein Jahr weg sein wird, habe es jedoch gerne verdrängt. Ich freue mich natürlich darüber, dass er neue Lebenserfahrungen sammelt und sich seinen Wunsch erfüllt. Vor allem hat mir seine letzte Prüfungsphase gezeigt, wie sehr er sich das Auslandsjahr in China wünscht. Ich habe ihn drei Wochen lang kaum gesehen, weil er im letzten Semester acht Klausuren bestehen musste und nur am Lernen war. Es fiel mir dennoch sehr schwer, mit ihm über seine Reise zu sprechen, weil ich selbst nicht wusste, wie ich ein ganzes Jahr ohne die Person, mit der ich schon seit über sechs Jahren zusammen bin, aushalten soll. Vor allem die letzten Tage vor dem Abschied waren sehr hart. Obwohl wir jeden Tag sehr viele Stunden miteinander verbracht haben, hatte ich das Gefühl, dass die Zeit einfach nicht ausreicht. Der Gedanke, dass wir das erste Mal so lange getrennt sein würden, ließ mich die letzten Nächte vor seiner Reise nicht schlafen. Ständig musste ich daran denken, was denn passiert, wenn ich ihn dringend zum Reden brauche und er einfach nicht erreichbar ist. So haben wir abgemacht, dass wir unsere Handys nachts nicht auf stumm schalten. So haben wir beide die Sicherheit, dass wir in Notfällen füreinander da sein können – auch wenn es nur telefonisch ist. Auch die ersten Tage nach seinem Abflug habe ich mich trotz der Unterstützung meiner Familie und Freunde sehr einsam gefühlt. Es hat einfach etwas gefehlt. Ich habe mich viele Tage zurückgezogen, um alleine zu sein. Ich wollte einfach nicht mit der Frage, wie es mir ‚denn jetzt eigentlich ohne ihn‘ ginge, konfrontiert werden – auch wenn es lieb gemeint war. Eigentlich wollte ich in der ersten Zeit viel für die Universität machen – eigentlich. Die Realität sah anders aus: Ich lag die ganze Zeit mit einer Schreibblockade im Bett, habe Serien auf Netflix geschaut und dabei genascht. Eigentlich ja nur eine gewöhnliche Prokrastinationsstrategie während der Prüfungsphase – zuzüglich der Einsamkeit. Nach der ersten Woche und ganz vielen Videoanrufen auf WeChat konnte ich mich auch endlich wieder meiner Uni widmen.
Doch die Zeitdifferenz wird für die nächsten vier Wochen unseren Alltag erschweren. Ab dem 10. September beginnen Scheers Veranstaltungen in der Universität und ich bin mit meinem vierwöchigen Masterpraktikum beschäftigt. Da wird es für uns schwierig, eine für uns beide passende Uhrzeit zu finden. Wir haben uns daher zunächst darauf geeinigt, dass wir uns ständig kurze Nachrichten – sei es nur ein ‚Ich denke an dich‘ – schicken, damit wir trotz der großen Entfernung nichts voneinander verpassen. Wir schreiben uns jeden Tag kurze Gutenmorgen- und Gutenachttexte – oder wie wir es nennen: „Motivationstexte“ zur Bewältigung des Alltags. Wenn wir mal nicht die Zeit zum Telefonieren finden, schicken wir uns ganz viele Fotos, Sprachaufzeichnungen und Videos.
Ein Wiedersehen ist im Februar geplant. Bis dahin heißt es für ihn, möglichst vieles von der Stadt zu sehen, um einen guten Touri-Guide abzugeben. Für mich heißt es wiederrum, dass ich bis zum Februar meine letzten Hausarbeiten abgebe und die letzten Klausuren schreibe, damit der Reise nichts im Weg steht.