Achtsamkeit in der Hochschule

Achtsamkeit ist en Vogue. Es gibt zahlreiche Bücher, Workshops, Artikel oder auch Podcasts. Achtsamkeit scheint die Lösung aller Probleme zu sein, doch mit Achtsamkeitskalendern, 30-Tage-Achtsamkeits-Challenge-Boxen oder dem kreativ meditativen Malen von Ornamenten hat das ursprüngliche Konzept nur wenig zu tun. Seit sechs Jahren bietet Prof. Dr. Sabine Grosser gemeinsam mit dem Religionswissenschaftler Dhammananda Thammannawe ein Seminar an der Fachhochschule (FH) Kiel zum Thema Achtsamkeit an. Mit den Studierenden erarbeiten sie die Ursprünge des Begriffs und führen in die Achtsamkeit ein. Doch wie passen Achtsamkeit und Lehre eigentlich zusammen? In einem Gespräch mit Jessica Sarah Schulz für den KN-Collegeblog berichtet die Kunstpädagogin und Kunstwissenschaftlerin über ihre Lehre.

Das Thema Achtsamkeit ist heutzutage in aller Munde, doch Achtsamkeit ist eigentlich kein neues Thema. Woher stammt das Konzept ursprünglich?

Die Frage ist, wie man Achtsamkeit versteht. Oft wird der Begriff auf seine buddhistischen Ursprünge bezogen. Im Buddhismus ist Achtsamkeit ein Konzept, das in ganz vielen verschiedenen theoretischen Zusammenhängen auftaucht. So beispielsweise im Zusammenhang mit der buddhistischen Lehre des „Achtfachen Pfades“, als ein Erkenntnisprinzip oder auch als Orientierung, wie man sein Leben führen sollte. Das ist sehr komplex und nicht so einfach zu übersetzen und zusammenzufassen, weil Achtsamkeit ganz verschiedene Facetten und Ebenen hat. Achtsamkeit wird im Buddhismus als die unerlässliche Grundlage für rechtes Leben und rechtes Denken verstanden. Sie ist eine wichtige Qualität für die Entwicklung von Erkenntnis und die Kultivierung und Bewahrung einer ethischen Praxis. Außerdem ist Achtsamkeit nicht nur eine kognitive Fähigkeit sondern ein Herzensanliegen – sie ist mehr als eine Bewältigungsstrategie. Dennoch weisen zahlreiche Studien nach, dass man durch eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis Stress abbauen kann. Wer das innere Tempo beeinflussen und verlangsamen kann, schafft eine Grundlage für sein inneres Gleichgewicht und kann damit auch Veränderungen im Alltag herbeiführen. Je höher der Stress, desto wichtiger ist die Entschleunigung für den Menschen.

Im säkularen also dem nicht religiösen Kontext hat Jon Kabat-Zinn den Begriff geprägt und eine Therapieform entwickelt, die ihren Fokus vornehmlich auf Stressreduktion legt. Diese Therapieform setzt sich aus einer sehr komplexen Praxis und Gesprächen zusammen. Einmal in der Woche trifft man sich mit dem Therapeuten, dem sogenannten MBSR-Trainer (Mindfulness-Based Stress Reduction), zusätzlich wird täglich eine Stunde zu Hause praktiziert: wöchentlich wechselnde Übungen wie beispielsweise den „Bodyscan“, Meditationen oder Yoga-Übungen. Yoga wird im Buddhismus nicht praktiziert, in der Therapieform nach Kabat-Zinn jedoch schon.

Daneben gibt es den populären Bereich, der mit Achtsamkeitskalendern, CDs oder Sprüche für jeden Tag, das Konzept auf ein sehr alltägliches Verständnis von „achtsam sein“ reduziert und vermarktet.

Wir leben in einer hektischen und schnellen Welt. Von morgens bis abends sind wir über unser Smartphone erreichbar, haben Stress im Studium oder im Job. Selbst im privaten Bereich wollen wir immer mehr erreichen. Jeder muss schneller, stärker und besser als der Andere sein und wer das nicht schafft, erfüllt nicht die Erwartungen. Wie kann Achtsamkeit hier Abhilfe schaffen?

Aus der Popularität des Achtsamkeit-Trends abzuleiten, dass unsere Gesellschaft Achtsamkeit braucht, ist meines Erachtens zu kurz gegriffen. Es gibt vielfältige Möglichkeiten mit den genannten Veränderungen in der Gesellschaft umzugehen. Da muss jede/jeder ihren/seinen eigenen Weg finden. Hinzu kommt, dass Religionen für viele Menschen der westlichen Welt an Bedeutung verlieren. Die Beschäftigung mit dem Buddhismus oder der Achtsamkeitspraxis scheint hier für viele eine Möglichkeit diese Bedarfe zu füllen. Spirituelle Erfahrungen können aber auch in anderen Bereichen gemacht werden oder andere Strategien zur Stressreduktion wie beispielsweise Digital Detox entwickelt werden. Da kann man auf ganz verschiedenen Ebenen ansetzen. Hier ist es wichtig, das jeweils Richtige für sich selbst zu finden.

Sie bieten am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der FH Kiel ein Seminar zum Thema Achtsamkeit an. Wie kam es dazu?

Die Idee für das Seminar entstand vor sechs Jahren. Wie bereits erwähnt, kooperiere ich in dem Seminar mit meinem Kollegen Dhammananda Thammannawe, der Religionswissenschaftler und buddhistischer Mönch ist. Wir kennen uns aus meiner Zeit in Sri Lanka. Ich habe dort von 1997 bis 2002 als DAAD-Lektorin gearbeitet; er war dort Student im Bereich „German Studies“. An der Universität Marburg hat er seinen Master in Religionswissenschaften gemacht und an der Ruhr Universität Bochum promoviert. Diese Kompetenzen wollte ich für das Thema nutzbar machen. Ich selbst bin Kunstwissenschaftlerin und Kunstpädagogin und habe daher eher ein theoretisches Interesse an Achtsamkeit als ein Beispiel für einen Kulturtransfer. Diesen Kulturtransfer kann man übrigens auch beim Yoga beobachten.

Was lernen die Studierenden im Seminar?

Den Studierenden soll durch das Modul ermöglicht werden, das Konzept der Achtsamkeit für sich einzuordnen und auszuprobieren. Sie lernen, wo die Ursprünge liegen und können dann entscheiden, ob und wie sie mit diesem Ansatz in der sozialen Arbeit arbeiten wollen. Im Seminar werden Praxiselemente und Theorie miteinander verknüpft.

Welche Übungen praktizieren Sie mit den Studierenden im Seminar?

Wir bieten ganz unterschiedliche Übungen an, sodass jeder schauen kann, was ihm oder ihr leichter fällt. Auch hier nutzen wir unsere unterschiedlichen Kompetenzen:

Mein Kollege ist praktizierender Mönch und meditiert regelmäßig, daher kann er die Meditation sehr kompetent und authentisch anleiten. Wir praktizieren unterschiedliche Meditationsarten. Zum Beispiel machen wir mit den Studierenden eine Gehmeditation. Die Gehmeditation ist im Grunde ein bewusstes und achtsames Gehen. Man hebt und senkt das Bein und rollt den Fuß dann ganz bewusst von der Ferse ab. So macht man einen Schritt nach dem anderen. Die Gedanken soll man dabei fließen lassen. Nach einiger Zeit sollte man dann in einen Rhythmus hereinkommen und spüren wie sich die Atmung verändert. Meist machen wir auch eine Sitzmeditation, die den meisten Studierenden schwerer fällt, da die Haltung und die Atmung ebenfalls beachtet werden müssen. Wir beginnen in der Regel mit kürzeren, circa 20-minütigen Übungen.

Ich selbst praktiziere seit siebzehn Jahren – seit meiner Rückkehr aus Sri Lanka – Yoga. Meist führen wir in die Übungspraxis mit Yogaeinheiten ein. Die sind sehr beliebt, weil die meisten Studierenden über die körperliche Erfahrung einen besseren Zugang finden als über Meditation. Natürlich kann man die beiden Ansätze auch miteinander verknüpfen. So kann man Atemtechniken mit Bewegungen kombinieren oder mit der sogenannten Wechselatmung zur Ruhe kommen. 

Wie setzen die Studierenden das Gelernte in der Praxis ein?

Eine Studentin hat beispielsweise einmal Kärtchen mit täglichen Achtsamkeitsübungen für ihre Arbeit im Mutter-Kind-Heim entwickelt, dabei ging es viel um Selbstaufmerksamkeit oder auch den Umgang mit Essen. Diese Intervention wurde positiv von den Frauen angenommen und war hilfreich, ihren Tag zu strukturieren und Impulse für ihre Lebensführung zu geben. Andere setzen Achtsamkeitsübungen in Kindertagesstätten in morgendlichen Ritualen im Rahmen von Sitzkreisen aber auch als Übung zum achtsamen Zähneputzen ein. Hierbei handelt es sich jedoch um eine kleine Alltagspraxis und nicht um Achtsamkeit im Sinne von Kabat-Zin oder dem Buddhismus. Im Buddhismus geht es letztlich um das Streben nach Erkenntnis auf dem Weg zur Erleuchtung, beim MBSR handelt es sich um eine anerkannte Therapieform. Beides können wir im Seminar und auch die Studierenden in ihren diversen Arbeitsfeldern nicht leisten.

Gibt es Übungen, die Studierende in ihren Alltag integrieren können?

Es gibt beispielsweise die vorhin erwähnte Übung „Bodyscan“. Bei dieser Übung liegt man entspannt auf einer warmen Auflage auf dem Boden. Dabei ist es ganz hilfreich, sich durch eine angenehme Stimme aus dem Internet anleiten zu lassen. Bei der Übung lässt man seine Aufmerksamkeit durch den Körper wandern. In der Regel beginnt man am rechten Fuß und folgt dann einer ganz einfachen Phrase wie: „Ich entspanne meinen rechten Fuß“. So wandert man bis zum Kopf und endet beim Fuß der linken Körperhälfte. Das ist für den Anfang eine ganz gute Übung. Für manche funktioniert es aber besser, in die Bewegung zu gehen. Da eignet sich die Gehmeditation, die man übrigens wunderbar am Strand machen kann. Es gibt ganz vielfältige Ansätze, solche Elemente in den Alltag zu übernehmen.

Vielen Dank für das Gespräch Frau Grosser.

Ein Gedanke zu „Achtsamkeit in der Hochschule

  1. Studi-Kompass

    Ich stimme voll zu. Die möglichen Wirkungen von Achtsamkeit werden aktuell in einem interdisziplinären Forschungsfeld von Bildungswissenschaft, Psychologie, Medizin und Neurowissenschaft untersucht. Die Ergebnisse belegen, dass Achtsamkeit und Mitgefühl grundlegend für das gesamte menschliche Handeln und Empfinden sind und dass sie Entwicklung, Lernerfolg, Beziehungsfähigkeit, Gesundheit und Leistung maßgeblich fördern können.

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