Wohnen auf dem Ostufer – Ein Plädoyer für Kiels Anti-Szeneviertel

Jede Stadt hat seine Szeneviertel. Stöbert man in Foren für Wohnungssuchen, heißt es in Kiel oft: „am liebsten am Südfriedhof oder in der Nähe vom Schrevenpark“. Das wollen gefühlt alle, aber offensichtlich können wir nun einmal nicht alle dort wohnen. Was man außerdem oft in solchen Anzeigen liest: „bitte keine Wohnung auf dem Ostufer“. Aber warum sind die Stadtteile östlich der Förde scheinbar so unbeliebt und haben sie vielleicht doch mehr zu bieten, als man ahnen würde?

Gaarden – das Viertel der Vielfalt

Alle wollen so nah wie möglich am Zentrum wohnen, rund um die Innenstadt, am besten so, dass Bahnhof und Einkaufsmöglichkeiten zu Fuß oder in wenigen Minuten mit dem Rad erreichbar sind. All das bietet Gaarden, der Stadtteil, der direkt östlich der Förde beginnt. Trotzdem gilt das Viertel als eher unbeliebter Wohnort. Wenn ich in Gaarden unterwegs bin, nehme ich auch die Ecken wahr, in denen gefühlt seit Wochen Gerümpel an der Straße steht oder der Müll nicht weggeräumt wurde. Aber Gaarden hat mehr zu bieten. Das Multi-Kulti-Viertel bietet jede Menge Vielfalt, angefangen bei den Einkaufsmöglichkeiten. In türkischen Supermärkten erwarten euch viele spannende Produkte. So kann ein Einkauf schon einmal zur Entdeckungstour werden und man findet jede Menge Inspiration für neue Gerichte. Der einzige Wermutstropfen ist, dass das Konzept Mehrwegplastik hier noch nicht ganz angekommen ist, stattdessen werden die meisten Einkäufe noch in dünnen Plastiktüten nach Hause getragen.

Kneipenmanier, Skateparks und vegane Küche

Wer den Feierabend im Sommer im Park verbringen möchte, hat in Gaarden mehrere Möglichkeiten vor der Haustür. Der Werftpark ist nah und ähnlich groß wie der beliebte Schrevenpark. Noch größer ist die Fläche des Sport- und Begegnungsparks, hier gibt es Jogging-Strecken, Beachvolleyball- und Tennis-Plätze, einen Skatepark und sogar eine Rollschuhbahn.

Wenn es abends in den Parks zu kalt wird (und wir gerade keine globale Pandemie haben), hat Gaarden mit seiner vielfältigen Bar- und Kneipenszene auch Indoor-Unterhaltung zu bieten. In der Räucherei in der Preetzer Straße finden regelmäßig alternative Konzerte oder Poetry Slams statt. In Restaurants wie dem Subrosa oder der Bambule erwartet euch eine rustikale Wohnzimmeratmosphäre, auf der Karte findet ihr hier viele vegetarische und vegane Gerichte. Im Medusa kann man in alter Kneipenmanier Billard und Tischkicker spielen und kommt so häufig mit anderen Gästen ins Gespräch, was in den Cocktailbars auf dem Westufer wahrscheinlich seltener passiert.

Gaarden ist ein buntes vielfältiges Viertel, aber auch ein Viertel, dass soziale Unterschiede sichtbar macht. Missstände, Armut und strukturelle Vernachlässigung gehören dazu. „Auf Gaarden muss man sich einlassen wollen“ – sagt eine Freundin, die seit mehreren Jahren in diesem Stadtteil wohnt. Aber wer dazu bereit ist, dem bietet Gaarden auch viel Herzlichkeit und besondere Begegnungen.

Dietrichsdorf – Wein am Strand statt Cocktailbar

Hier wohne ich. Als ich im ersten Semester meine Mitstudierenden kennenlernte, stellte ich fest, dass ich mit einer Wohnung auf dem Ostufer eher zur Minderheit gehörte. Viele zogen eine Wohnung im Zentrum vor, nah an der Bar- und Clubszene. Jeden Tag fast 40 Minuten im Bus verbringen, um zur Vorlesung zu kommen sei zwar nervig, aber das wär’s wert. Zugegeben nach fünf Jahren Dietrichsdorf weiß ich am allerbesten, dass sich das Unterhaltungsangebot in meinen Viertel wirklich in Grenzen hält, zumindest wenn es um Ausgehoptionen geht. Wenn ich ausgehen möchte, muss ich mein Stadtviertel verlassen und ein wenig Fahrzeit auf mich nehmen. Mich hat das selten gestört.

Stattdessen genieße ich gerade in den Sommermonaten die Nähe zum Strand. Von meiner Haustür brauche ich zum nächsten Strand gerade einmal zehn Minuten zu Fuß. Im Sommer kann ich mich hier verabreden und bei mitgebrachtem Wein den schönsten Sonnenuntergang bewundern: der ist auf dem Ostufer nämlich viel schöner als an der Kiellinie.

Aber auch jetzt im Herbst, gerade im Corona-Jahr habe ich die Nähe zur Natur nochmal ganz neu schätzen gelernt. Ich kann hier aus der Haustür treten, ohne direkt zehn Menschen auf dem Bürgersteig zu begegnen. Abstand halten und Raum für mich haben, ist hier viel einfacher als in so manchem Westufer-Viertel.

Nur fünf Minuten bis zur Vorlesung

Das entscheidendste Kriterium in die Wohnung nach Dietrichsdorf zu ziehen, war für mich natürlich nicht der Strand. Hätte ich an der Uni studiert, wäre das sicherlich nicht in Frage gekommen. Ich verstehe absolut, warum CAU-Studierende wenig Interesse am Ostufer haben. Aber wer an der FH studiert, sollte das ernsthaft in Betracht ziehen. Wenn meine Vorlesung um 8:15 Uhr beginnt, reicht es völlig um 8:10 Uhr meine Wohnung zu verlassen: ein Luxus, den ich ungern eintauschen würde gegen eine 40-minütige Busfahrt in einer überfüllten Linie 11. Auch Freistunden stören mich nicht, denn ich kann sie entspannt Zuhause verbringen oder in der Mittagspause selbst kochen, wenn mir der Mensa-Plan nicht zusagt.

Im Osten ist es auch schön.

Auch wenn der Schrevenpark zweifellos schön ist, können wir nun mal nicht alle fußläufig entfernt wohnen. Ich muss zugeben mit meinen 10 Minuten Fußweg zum Strand habe ich die Faszination für diesen Park eh noch nie so ganz verstanden. Warum im Park liegen, wenn ich in einer Stadt lebe, die so viele schöne Strände zu bieten hat? Ich verstehe natürlich, dass es großartig sein kann zu Fuß zum Lieblingsrestaurant zu laufen oder nachts auf dem Nachhauseweg vom Feiern nicht auf irgendeinen lahmen Nachtbus angewiesen zu sein. Ich verstehe, warum viele da wohnen möchten, „wo was los ist“, aber wer immer nur auf dem Westufer bleibt, verpasst einen großen Teil von Kiels Identität. Es müssen nicht gleich die Umzugskartons gepackt werden, schon ein Ausflug auf die andere Seite der Förde wird euch beweisen, Kiels Anti-Szeneviertel haben gute Argumente auf ihrer Seite.

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